Les vagabondes

„Nicole Morello hat mit ihren Verwandten und Freunden – hier ist ein größerer Tross angekommen – in den letzten Tagen diesen Raum für ihre Arbeiten im wahrsten Sinne des Wortes erobert. Das freut mich sehr. Ich war gespannt, bei dem ersten Ansehen ihrer Arbeiten, wie sie diesen Raum gestalten wird, und hatte mir schon gewisse Vorstellungen gemacht; als ich gestern hierher kam, musste ich diese Vorstellungen komplett über Bord werfen; es war alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber es war wirklich so faszinierend, und ich möchte jetzt etwas zu diesen Arbeiten sagen.

Sie ist eine Künstlerin, die nicht einfach l’art pour l’art Kunst macht, um sich selbst praktisch zu entäußern, sondern die eine richtige Systematik in ihrer Kunst hat.

Vielleicht sollte ich eingangs erwähnen, dass sie nach ihrer Ausbildung in Frankreich und in Deutschland sich schwerpunktmäßig auf die Buchkunst zuerst beschränkt hat, aber nicht übliche Buchkunst, das Illustrieren von Büchern, sondern das Bearbeiten von Büchern in durchaus didaktischer Weise.
Sie sehen hier einen Grundkern dieser Arbeiten; es sind Buchobjekte, die sie selbst gestaltet, die sie selbst herstellt, die sie selbst macht; am auffälligsten ist natürlich die Arbeit, die das faszinierende Titelbild des Plakats und der Einladungskarte ziert; man denkt, man ist im Dschungel, wenn man dieses Foto sieht. Der Titel ist „les vagabondes“. Ich musste als jemand, der mit Biologischem nicht so befasst ist, mir erklären lassen, dass Vagabunden im Pflanzenbereich Pflanzen sind, die eigentlich zufällig ausgesät werden, die da sind, wo der Samen hinfällt, die oft keiner will; die Künstlerin hat gleich festgestellt, dass da drüben im Grünstreifen mitten im Parkplatz auch solche Vagabunden zu Hause sind. Vielleicht war das auch die Anregung für diese Idee. Sie sehen hier einige von diesen Buch-Skulpturen, die plastisch vielfältig gearbeitet sind.

Das ist der eine Schritt.

Jetzt kommen wir zu dem, was man vielleicht mit einem besonderen Akzent mit Nachhaltigkeit bezeichnen könnte. Sie sehen, dass die Formen in den Büchern aus Materialien ausgeschnitten wurden; gleichzeitig sind aus diesem Prozess der Herstellung Formen übrig geblieben; andere Künstler würden sie vielleicht sofort wegschmeißen – nicht so Nicole. Sie verwendet diese Formen. Sie sehen im Nebenraum diese großen bunten Seiten – als Schablonen, um bunte Motive systematisch auf die Seiten zu bringen; das ist eine Wiederverwertung dieser Materialien. Die Objekte haben untereinander einen ganz bestimmten Bezug.

Wenn Sie jetzt fragen, wie kommen hier diese zarten, fast sinnlich wirkenden Objekte zustande, dann ist es der dritte Schritt im Ablauf. Denn nachdem sie diese Formen umzingelt hat mit ihrer Farbe, benutzt sie sie als Stempel und druckt sie auf diese großen Blätter. Die Farbe nimmt immer mehr ab, das Motiv wird immer zarter.

Sie sehen noch im hinteren Raum eine Installation von sehr schönen grünen Zeichnungen; die Blätter, die sie als Unterlagen hergenommen hat, um ihre Formen zu erarbeiten, hat sie weiter verwendet. Alle diese Arbeiten sind zwar sehr ästhetische Einzelarbeiten, aber sie haben alle untereinander einen ganz systematischen Bezug.Es ist eine hochinteressante Art und Weise, an die Materialien heranzugehen.

Erwähnen möchte ich noch die Tuschezeichnungen, die einen anderen Aspekt ihrer Arbeiten zeigen. Sie hat gestern erzählt, dass sie diese Arbeiten im Freien auf einem Platz in Düsseldorf ausgestellt hatte und täglich die hängenden Blätter gewechselt hat. Die Leute sind einfach vorbeigegangen und haben oft nichts gemerkt. Es sind natürlich zurückhaltende, sensible Arbeiten, die nicht direkt ins Auge fallen, die aber das Schaffen der Künstlerin abrunden.

Um einen Kreis zu schließen, muss ich natürlich eines erwähnen, dass sie eine ganz besondere Vorliebe hat; sie ist also nicht nur auf die bildende Kunst fixiert,sie ist nicht nur eine Künstlerin, die Bücher herstellt, sondern die auch Bücher liest, und da steht im Mittelpunkt ihres Lebens seit Langem ein ganz besonderes Werk von Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, ein Romanepos über sieben Bände, das ihr künstlerisches Schaffen und ihr ganzes Denken in nachhaltiger Weise beeinflusst, und das wird auch gleich im Mittelpunkt der anschließenden Performance stehen.

Ich wünsche Ihnen eine sehr kreative Auseinandersetzung mit den Arbeiten.

Ich bedanke mich recht herzlich für diese interessante Ausstellung, die einen ganz neuen Aspekt in dieser Räumlichkeit bringt.“

Reiner R. Schmidt
Regensburg, den 14.04. 2016