Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ganz herzlich begrüße ich Sie zur heutigen Eröffnung der Ausstellung mit dem Titel "Aufgehoben" von Nicole Morello und Anja Maria Strauss. Besonders begrüßen möchte ich die beiden Künstlerinnen, und ich möchte mich herzlich bei beiden bedanken für die schöne Ausstellung und für ihr großes Engagement bei allen Vorbereitungen.
Wir sehen in dieser Ausstellung Papierarbeiten von Nicole Morello, aus Pflanzenelementen gestaltete Objekte von Anja Maria Strauss und im Anschluss an meine Begrüßung eine von Nicole Morello konzipierte Performance.
Die Künstlerinnen haben der Ausstellung den Titel "Aufgehoben" gegeben. Aufgehoben - das meint, dass man etwas vom Boden aufgehoben hat, ein Blatt oder ein Stück Papier, aber das meint auch, dass man etwas aufbewahrt und vielleicht vor dem Wegwerfen gerettet hat.
"Aufgehoben" - das ist wie ich finde ein sehr poetischer Titel. Das Vom-Boden-Aufheben eines einzelnen Gegenstandes setzt seine bewusste Wahrnehmung voraus, gefolgt von möglicherweise eingehender und mit Assoziationen verbundener Betrachtung und - wenn man den Gegenstand dann bewahrt - einhergehend mit besonderer Wertschätzung und Einordnung in einen größeren Zusammenhang.
Darüber hinaus kann auch eine Regel oder ein Zustand aufgehoben werden.
Welcherlei Bedeutung der Titel bei den Arbeiten von Nicole Morello und Anja Maria Strauss hat, das wird vielleicht anhand meiner folgenden Ausführungen deutlich.
Nicole Morello ist Neuilly-sur-Seine, einem westlichen Vorort von Paris geboren. Sie hat in Paris Kunst und Sprachen studiert, wurde Dolmetscherin für Englisch und Deutsch. 1977 kam sie nach Düsseldorf und fand schnell Kontakt zur in dieser Zeit äußerst lebhaften und offenen Düsseldorfer Kunstszene. Tagsüber arbeitete sie als Fremdsprachenkorrespondentin, ihre Abende verbrachte sie mit Künstlern. Künstlerisch gearbeitet hat sie in dieser Zeit nur heimlich - wie sie selbst sagt. Sie hat in Bücher gezeichnet und gemalt, die sie bei Bedarf schnell schließen konnte, wenn Sie nicht wollte, dass ihr jemand über die Schulter sah. Von Büchern war sie von Kind an fasziniert, nicht unbedingt von ihrem Inhalt, eher von ihrer Potenzialität, vom Buch als Objekt, von seiner Farbe und äußeren Gestaltung, von der Möglichkeit, es zu öffnen und zu schließen, von der Verheißung, die es in sich trägt.
Ab Mitte der 80er Jahre hat Nicole Morello sich ausschließlich der Kunst gewidmet. Sie hat seitdem eine Fülle von Buchobjekten und Künstlerbüchern geschaffen, mit denen sie schnell erfolgreich wurde. 1984 hatte sie ihre erste Einzelausstellung in einer Pariser Galerie und ab 1986 wurde sie von der inzwischen verstorbenen Tony Zwicker in New York vertreten, DER erfolgreichen Kunsthändlerin für Buchkünstler aus aller Welt.
Die ersten Buchobjekte waren inspiriert von den aufwändigen Pop-Up-Büchern am Ende des 19. Jahrhunderts. Nicole Morello hat phantasievolle Szenen aus Flora und Fauna aus Papier geschnitten, farbig gestaltet und hintereinander gestaffelt in verschiedenen Ebenen. Der Betrachter, der ein solches skulpturales Buch öffnet, betritt sozusagen eine Bühne, wird in einen imaginären Wald hineingezogen oder in eine Landschaft der Antarktis mit unzähligen Pinguinen.
Einige solcher Bücher sind zeitgleich zu dieser Ausstellung im Schaufenster der Buchhandlung am Maubishof ganz hier in der Nähe zu sehen. Diese sehr sehenswerte Präsentation möchte ich Ihnen aufs Wärmste empfehlen. In diesem Schaufenster sind aber nicht nur die von Nicole als Märchenbücher bezeichneten Arbeiten zu sehen, sondern auch Buchobjekte, die eine Tendenz zur Abstraktion deutlich werden lassen.
Etwa 2004 legt die Künstlerin ihr Schneidemesser beiseite und beginnt zu spielen mit den beim Schneiden der Papiere entstandenen Resten, unzähligen Schnipseln, die sie über die Jahre hinwegaufgehoben hat. Diese zufällig entstandenen Abfallprodukte werden nun zu künstlerischen Gestaltungsmitteln. Zum Beispiel auf schwarzen oder weißen Karton als Hintergrund montiert wirken farbige oder weiße Schnipsel wie aufgespießte Insekten in der Vitrine eines Entomologen. Schmetterlingskästen nennt die Künstlerin diese Arbeiten, die Sie im Flur und im Nebenraum sehen können. In zwei der weißen Kästen sind übrigens die Schnipsel zum Teil mit fluoreszierender Farbe bemalt und erzeugen im Dunklen einen Sternenhimmel.
Und es entstehen nun abstrakte Buchobjekte und Wandarbeiten. Unzählige Male umfährt Nicole Morello zum Beispiel die Schnipsel auf transparenten Papieren als Schablonen. Insbesondere durch Überlagerung dieser Papiere entsteht so ein farbintensives, dynamisches Spiel vielfach verflochtener, sich durchdringender und überlagernder Formen und Konturen, man gewinnt den Eindruck von Räumlichkeit und Bewegung. Zartere und eher lineare Strukturen ergeben sich, wenn die Künstlerin die Schablonen mit den beim Umfahren verbliebenen Farbresten als Stempel benutzt. Die transparenten Blätter voller farbiger, dickerer und dünnerer Striche bindet Nicole Morello zu Heften und Büchern in immer größer werdendem Format.
Hier im Ratssaal und draußen im Flur können Sie solche Hefte aufgeschlagen als Wandarbeiten
sehen, ein farbintensives etwa am Treppenaufgang, ein zarteres hier an der gegenüberliegenden
Wand. Würden Sie umblättern, so würde Ihnen jedes Mal ein neues Kunstwerk begegnen.
Die Hängung mittels Klämmerchen betont die Leichtigkeit der Arbeiten, lässt ihnen
Bewegungsspielraum und unterstreicht auch das Temporäre der Präsentation.
Diese Bücher und Hefte und insbesondere die ganz großen Wandarbeiten hier im Nebenraum und im
Flur oben an der großen Wand sind in einem zeitaufwändigen, geradezu meditativen, bewusst
unbewussten Prozess entstanden. Oft bearbeitet die Künstlerin die Papiere in einzelnen
Abschnitten, nimmt das Gesamtbild erst nach Beendigung der Arbeit in den Blick. Stellt das Ergebnis
sie nicht zufrieden, zerschneidet sie es und - wie könnte es anders sein - hebt die Bestandteile auf,
gestaltet z.B. kleine Bücher aus den Resten, von denen sie einige auf dem Grafikschrank im
Nebenraum sehen.
Auch beim Malen verwendete Unterlegpapiere können eine - wenn auch zufällige - so doch höchst interessante abstrakte Komposition aufweisen, wie etwa bei den Landschaften, die sie im Vorraum der Galerie sehen können und den Heften aus Seidenpapier hier im Nebenraum. Siegfried Cremer, in dessen Kunst der Zufall eine bedeutende Rolle gespielt hat, hat das Zitat geprägt: "Der Zufall ist das uns Zu-Fallende."
Ein für die Künstlerin besonders wichtiges Buch, an dem sie wohl 2 Jahre gearbeitet hat, liegt hier in leuchtendes Gelb gebunden, vor uns und wird gleich ein wichtiger Teil der Performance sein. Beim Blättern dieses Buches ist Nicole aufgefallen, dass dies nicht nur optische sondern auch akustische sinnliche Erfahrungen bewirkt. Nicole Morello konzentriert sich in ihrer Arbeit zunehmend auf das Buch als Körper in Bewegung, möchte in Zukunft hauptsächlich Performances konzipieren und choreographieren, in denen dasBuch synästhetisch erlebbar ist. Eine Arbeit aus den vielleicht letzten aufgehobenen Resten bildet den Endpunkt der Performance.
Doch nun zunächst zu den Arbeiten von Anja Maria Strauss: Anja Maria Strauss ist im Saarland geboren und hat nach ihrer Ausbildung zur Floristin im väterlichen Betrieb ein Studium an der staatlichen Fachschule für Blumenkunst in Weihenstephan absolviert. Sie lebt und arbeitet heute als freischaffende Künstlerin in Neuss und Düsseldorf. Sie hatte mehrere Arbeitsaufenthalte als Lehrbeauftragte in Tokyo, hat Projektarbeiten im In- und Ausland ausgeführt und ihre Arbeiten bei zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. Hier in der Galerie hat sie vor ziemlich genau 8 Jahren gemeinsam mit Ildefons Höyng ausgestellt. 2015 hat sie den Publikumspreis der Kunstmesse Regensburg gewonnen und 2016 den großen Kunstpreis der Stadt Esch in Luxemburg.
Anja Maria Strauss arbeitet mit Elementen von Pflanzen, Blüten, Blättern, Samenkapseln, Stängeln und anderen mehr, aus denen mittels Draht, Nylonfäden und anderen Hilfsmitteln Objekte und Installationen werden.
Da werden Samenkapseln von Mohn, Weidenkätzchen oder die Schuppen von Pinienzapfen auf Drähte aufgespießt, und diese in rhythmischer, regelmäßiger Anordnung in einen quadratischen Sockel aus Beton oder einer MDF-Platte eingelassen, aufgereiht in gleichen Abständen parallel zu den Sockelkanten. Oder die Samen von Löwenzahn, die mit ihren kleinen Fallschirmchen die kugeligen Pusteblumen bilden, werden mit haarfeinen Netzen eingefangen, diese dann verschlossen und wie kleine Wolken in Plexiglaskästen angeordnet oder ganze Pusteblumen werden an Nylonfäden zu zarten Objekten arrangiert. Fast unsichtbare Schnüre tragen vertrocknete, verkrüppelte, verholzte Elemente von Hainbuchen, die als bizarre Formen im Raum zu schweben oder zu fliegen scheinen wie geheimnisvolle Zeichen oder Wesen. Luftgeister nennt Anja Maria Strauss diese beiden Arbeiten.
Anja Maria Strauss richtet ihren durch den handwerklichen Umgang mit Pflanzen geschulten Blick auf die Bedeutung und die Formschönheit einzelner Details, löst diese aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang, erhebt sie zum künstlerischen Material, hebt ihre Vergänglichkeit auf und gewährt uns Betrachtern eine überraschend neue Sichtweise auf Bekanntes. Kunst macht aus etwas etwas anderes- so hat André Thomkins es einmal formuliert. (Cremer Katalog „plus drei“, S. 9)
Dabei begegnet Anja Maria Strauss dem pflanzlichen Material mit großer Achtsamkeit, verwendet es fast immer naturbelassen, verklebt nichts und nimmt nur in seltenen Fällen Farbveränderungen vor. Die handwerklich äußerst präzise Ausführung der Arbeiten ist entscheidend für ihre bestechende Wirkung und klare Ästhetik.
rDas Erkunden von Pflanzen gehört wesentlich zum Arbeitsprozess von Anja Maria Strauss, weniger im botanischen Sinn als im Hinblick auf ihre künstlerische Verwendbarkeit, Struktur und Form, und im Hinblick auf die zeitlichen Veränderungen des natürlichen, organischen Werkstoffs ihrer Arbeit. Anja Maria Strauss hat einen bestimmten Zeitpunkt des Trocknungsvorgangs abgepasst, an dem die großen Blätter der Agavenarbeit die von ihr gewünschte Bewegung und Färbung zeigen. Skulptural spannen sich die Agavenblätter in ihre Behausung, halten sich gegenseitig, zeigen eine faszinierend strukturierte und malerisch gefärbte Oberfläche. Sehr wehrhaft, ja bedrohlich sehen sie aus mit ihren seitlichen Stacheln und scharfen Spitzen. Man könnte in der Anordnung an Schwerter sichgegenüberstehender Feinde denken, wäre da nicht das sanfte Violett des Hintergrundes und der sie umgebende Plexiglaskasten, die die Bedrohlichkeit mildern, einschließen und auf Distanz halten. Viele ihrer Objekte umgibt AMS mit einem Kasten aus Plexiglas, der die Arbeiten schützt und umhüllt, sie aus ihrer Umgebung hervorhebt und ihnen ihre Aura verleiht.
Zwei ganz neu entstandene in diesem Jahr erst beendete Installationen, treten hier in diesem Raum in ihrer Gegensätzlichkeit von Schwarz und Weiß, von Leichtigkeit und Schwere, von Feinheit und Grobheit, von Eleganz und Sprödigkeit in einen spannenden Dialog. Bei der weißen, schwebenden, sehr poetischen Arbeit hat Anja Maria die gehäuteten Blätter der Lunarie, des Judaspfennigs, die durch die Häutung wie zarte Membranen wirken, mit ihren zerbrechlichen Stielen in eine transparente weiße Folie mit sehr feiner Gitterstruktur sozusagen eingewebt, die Folie im Rund mehrfach überlagert. Wie in einem zarten Nebel scheinen die Blättchen schwerelos herumzuwirbeln. Ein grobmaschiges Kunststoffnetz, das von der Decke ausgehend zum Boden geradezu hernieder fließt, ist der Träger der Pflanzenelemente in der schwarzen Installation. Bei den Pflanzenelementen handelt es sich um in Wachs getauchte Physalisblüten, Blüten der Lampionblume, in verschiedenen Stadien der Zersetzung. Wenn die leuchtend orangen Blüten abfallen, trocknen sie und verlieren ihre Farbe, später dann ihre Haut, so dass nur ein feines Netz wie ein Skelett übrig bleibt. Zwei sehr verschiedene Arten von Netzen begegnen sich in dieser Installation und werden von Wachs wie von einer gemeinsamen Haut überzogen.
Es ist ein gemeinsames Charakteristikum der Arbeiten von Anja Maria Strauss und Nicole Morello, dass sie komponiert sind aus einer Fülle einzelner, oft kleiner - in ihrer Vereinzelung eher unbedeutender - Elemente, die vom künstlerischen Auge zu Bedeutung erhoben, sozusagen in beiderlei Sinne aufgehoben wurden und in ihrem Zusammenspiel zu etwas ganz Neuem geworden sind, zu Kunstwerken, wie wir sie hier in dieser Ausstellung sehen.
von Brigitte Splettstößer